In Tywyn, einem Badeort an der walisischen Westküste, ist dieser 16. August 1997 der heißeste Tag des Jahres. Dem gemeinsamen Konkurrenten der etwa 750 Läuferinnen und Läufer macht das nicht die Spur. Auf knapp 23km treten wir gegen einen Zug an, einen der Great Little Trains von Wales.
Great Little Trains sind
Schmalspurbahnen,
Relikte aus dem Industriezeitalter des Landes, die heute von
Enthusiasten gepflegt und gehegt werden. Unsere Bahn fährt seit 1865 vom Küstenort
Tywyn am Südrand des Snowdonia-Nationalparks durch das malerische Tal-y-Llyn
nach Abergynolwyn, wo früher die Abbauprodukte der Schiefermine eingeladen
wurden. Heute transportiert sie die Begleiter der Läuferschar und ist seit
Wochen ausgebucht. "Race The Train" findet zum 14. Mal statt. Die
meistgestellte Frage vor dem Start lautet: "Did You run it before? - Bist
Du schon 'mal hier gelaufen?" Nein, es ist mein erstes Mal.
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Termin:
Samstags, Mitte August, aktuell: siehe
link Unterkünfte: |
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Wir starten auf der Brücke, der Zug versteckt sich hinter dem Bahnhofsgebäude. Ohne Ansage geht es los, die Lok pfeift und gleichzeitig knallt der Startschuß. Ich habe mich hinter den außer mir einzigen "Europäern" (britischer Abgrenzungsterminus) eingereiht, einer Gruppe von Holländern aus Zwolle, die sich treffend Railrunners nennt. Auf der breiten Straße kann das große Feld in vollem Tempo starten. Wir entfernen uns zunächst von der Bahn, denn schließlich soll das Dorf Anteil an diesem Großereignis nehmen, was es auch tut. Wir laufen über die gesamte Länge der Hauptstraße, das ist die erste Meile, und sie ist voll für uns gesperrt. Es geht leicht bergab. Ich kann die Läufermenge vor mir gut übersehen und ihre Zahl einschätzen. Das müssen erheblich mehr sein als die 100, die in den Vorjahren in der Lage waren, den Zug abzuhängen. Dazu ist ein Meilenschnitt von rund 7:25 min nötig, also 4:35 min/km. Die ersten zwei Meilen fällt es leicht, das Tempo vorzulegen, aber sehr bald geht es ins country, in hochgrasige Felder mit steilwandartigen kurzen Anstiegen. Nach zehn Minuten habe ich mein Trainspotting-Erlebnis, es ist ein Abschied. Nach der vierten Meile ist mein Tagesziel gesteckt: Ankommen. In diesem Tal steht die Luft. Nach einer Durststrecke am Anfang werden erste Zweifel an der Organisation schnell beseitigt. Noch nie habe ich einen Lauf mit so dicht verteilten Getränkestationen erlebt. Ich lasse keine aus. Auch Schwämme gibt es reichlich. Da wir die Zugstrecke immer wieder kreuzen, mit ständigem Auf und Ab, haben wir uns einen Bonus erlaufen und dürfen früher wenden. Zudem muß die Lok umgekoppelt werden. Jetzt weiß ich die ungleiche Konkurrenz hinter mir und fühle mich leichtfüßig, für eine kurze Zeit.
Das ist
auch nötig, denn nun wird aus dem cross country ein hillrun. Auf schmalen
Schafspfaden geht es am Steilhang entlang, unter uns die Gleise. Sehnen und
Bänder werden auf eine Zerreißprobe gestellt. Wer abrutscht, findet sich erstmal
2 Meter tiefer wieder. Diese Meile dauert für mich 12 Minuten. Hin und wieder queren wir ein steiniges Bachbett. Auch nach 14 Tagen trockener Hitze holen wir uns hier noch nasse Füße. Die zahllosen Helfer sind rührend um uns bemüht. Ständiges Aufmuntern: "Well done!" Wir kreuzen wieder die Gleise. "Durch den Tunnel und dann rechts!" Nächster Zuruf: "Es ist ein kurzer Tunnel!" Meint sie, ich fürchte mich vor der Dunkelheit? Dann spüre ich den Grund für den Zuspruch. Die Unterführung ist ein Matsch-Hindernis. Bei der nächsten Getränkestation erfrischt uns jemand mit auf die Brust gezielten Duschen aus dem Wasserbecher. Dann wieder eine Mutprobe: Eine Kuh hat sich in unserem Hohlweg breitgemacht. Zum Glück hat sie gute Nerven. Mittlerweile bin ich dankbar für den einen oder anderen Steilanstieg. Er gibt Gelegenheit, ein paar Schritte zu gehen. Lange schon sehen wir den Kirchturm von Tywyn vor uns. Welch eine Wohltat, wieder auf hartem Asphalt zu laufen. "Well done, 83!" Die Hauptstraße ist nicht mehr gesperrt. Auf dem Bürgersteig schlucken wir die Abgase des Verkehrsstaus. Dicht gedrängt stehen die Zuschauer auf dem Festplatz. Vor etwa 15 Minuten muß der Zug eingetroffen sein. Mein Tempo-Schnitt beträgt 5:20 min/km. Der Sieger, Martin Cox, bringt das Kunststück fertig, unter diesen Bedingungen die 5 Jahre alte Bestzeit zu schlagen. Er kam nach 1:19:56 h ins Ziel. Susan Catterall verpaßte als first Lady mit 1:47 h nur knapp die Zugankunft. 93 der 723 Finisher, das sind 12,9%, werden für den Sieg über die Bahn mit einer Urkunde belohnt, während sich alle anderen mit einer Medaille begnügen müssen. Wie auf der Insel üblich, steht über allem der gute Zweck. Über die Jahre hat der veranstaltende Rotarier-Club seine Überschüsse an 83 gemeinnützige Organisationen verteilt. Dabei hilft auch die große Abendveranstaltung im Festzelt mit Barbecue und Feuerwerk. Meine Antwort auf die jetzt meistgestellte Frage? "Yes, I'll do it again."
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